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Kober-Studie
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10.Quellen
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Presse-Veröffentlichung
Presse-Veröffentlichung

Sonntag Aktuell, 29.7.2001

 

Über den Umgang mit Zwangsarbeiterinnen bei Boss

Schläge ins Genick

Die ersten Auszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter haben schon begonnen. Viele Unternehmen haben damit das Kapitel Zwangsarbeit abgeschlossen. Auch bei der Hugo Boss AG in Metzingen scheint das so zu sein. Doch da sind die Vorwürfe einer in Polen lebenden ehemaligen Arbeiterin.

Der alte Friedhof ist ein ruhiger Ort. Besonders in der Mittagshitze. Der Weg zu Josefa Gistereks Grab führt über das frisch gemähte Gras. Ganz hinten an der Erms steht ein kleiner Grabstein, frische rosa Begonien sind davor gepflanzt. Auf dem Stein steht in polnischer Sprache: “Das grausame Schicksal hat mich aus dem Kreis meiner Familie gerissen und mich in ein fremdes Land verschlagen”. Das hört sich düster an. Vielleicht blieb Josefas Schicksal so lange im Dunkeln, weil in Metzingen kaum jemand polnisch versteht.

Als Josefa Gisterek 1941 aus ihrem Heimatort Auschwitz nach Metzingen deportiert wird, ist sie 20 Jahre alt. Eine fröhliche junge Frau. In Metzingen muss sie bei Boss als Näherin arbeiten. Sie wohnt mit ihrer Schwester Anna, die ein Jahr zuvor zu Boss kam, in der Wiesenstraße bei Maria Speidel. Die 91jährige sagt: “Ja, natürlich erinnere ich mich noch an die beiden”. Gut sei sie gewesen, die Josefa, einfach gut.

Ein Jahr zuvor war ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. 1940 hatte es Hugo Boss allen gezeigt. Der Mann, der Mitte der zwanziger Jahre bankrott war und seinen Schwiegervater um Geld bitten musste, war der größte Textilunternehmer am Ort. Die Klassifikation als kriegswichtiger Betrieb sicherte die Produktion. Der seit 1939 geführte Krieg versprach weiteres Wachstum, dank der guten Verbindung zum größten Auftraggeber, der Reichszeugmeisterei der NSDAP. Das Problem fehlender Arbeitskräfte löste Boss pragmatisch. Er schickte seinen besten Mann, den Vertreter Eberhard nach Polen, um dort mit massiver Hilfe der Gestapo Arbeiterinnen anzuwerben.

“Polenschweine, haben sie uns genannt”, erinnert sich die ehemalige Zwangsarbeiterin Maria Klima an die Chefs der Firma Boss. 14 Jahre alt war Klima zum Zeitpunkt ihrer Deportation. Die Arbeitstage in der Näherei, dort wo heute Fabrikverkaufskunden über knarrende Bretter nach Schnäppchen hasten, waren lang. Von sechs bis 18 Uhr, 12 Stunden. Auch Anna und Josefa nähen, Tag ein Tag aus, Uniformen für die Wehrmacht. Nach Dienstschluss helfen sie Maria Speidel auf dem Bauernhof. Anna springt im Haushalt des Firmenchefs ein, wenn das Dienstmädchen bei Boss krank ist. Hugo Boss sei ein guter Mensch gewesen, der sich um seine Arbeiter gekümmert hat, sagt eine ehemalige deutsche Arbeiterin. Anna Gisterek, die heute Anna Wocka heißt, sagt: “Manchmal reichte das Geld nicht einmal für etwas Brot.”

Entsprechend dem sogenannten Göhring-Erlass mussten ab März 1940 alle polnischen Zwangsarbeiter ein Abzeichen mit einem “P” darauf an der Kleidung tragen. Für die jungen Frauen eine Demütigung. “Ein paar Mal sind Anna und Josefa abends nach Tübingen zum Tanzen”, erinnert sich Maria Speidel. Das “P” haben sie vorher vorsichtig abgemacht. Für ein paar Stunden ganz normale junge Leute sein. Aber die kleinen Fluchten in ein unbeschwerteres Leben reichen Josefa nicht. In einem Brief teilt der Vater im Dezember 1941 seinen beiden Mädchen mit, dass die Mutter zu Hause schwer krank sei. Für Josefa ein willkommener Anlass zur Flucht. Quer durch das große Deutschland schlägt sie sich in ihre Heimatstadt Auschwitz durch.

Eineinhalb Jahre später im März 1943 ist Josefa Gisterek, laut der Meldekarte aus dem Stadtarchiv, wieder in Metzingen. Was in der Zwischenzeit passierte, war bisher unklar.

“Die Gestapo hat meine Schwester in unserem Elternhaus verhaftet und in mehrere Konzentrationslager gebracht. Über die Namen hat sie niemals gesprochen”, so Anna Wocka. “Dort wurde ihr sehr viel Gewalt angetan und sie wurde sehr oft auf den Kopf geschlagen”. Welche Lager Josefa durchleiden musste, ist heute schwer nachzuvollziehen. Im Gestapo-Gefängnis Myslowice verliert sich ihre Spur. Im Konzentrationslager Auschwitz sind ein großer Teil der Akten über weibliche Häftlinge vernichtet worden.

“Sie sah sehr schlimm aus, als sie wieder nach Metzingen gebracht wurde”, erinnert sich ihre Schwester Anna. Aus der lebensfrohen jungen Frau ist ein betrübter, verzweifelter Mensch geworden, der seine Gedanken nur noch dem Tagebuch anvertraut. Auf die Verletzungen, die ihr in den Konzentrationslagern zugefügt wurden, wird bei Boss keine Rücksicht genommen. “Der Kapo hat sie zum Arbeiten gezwungen, obwohl sie sehr krank war und Kopfschmerzen hatte”, sagt Anna Wocka. Der Mann fürs Grobe ist Boss-Schwiegersohn Eugen Holy. Willi Tscharotschkin, der Anfang der vierziger Jahre als Russlanddeutscher nach Metzingen kam, sagt: “Er hat immer wieder geprügelt. Schläge ins Genick waren bei Boss an der Tagesordnung. Besonders die Ostarbeiter hat er schlecht behandelt.” Erst nach langem Bitten wird Josefa ein Besuch beim Metzinger Arzt Doktor Bornhäuser erlaubt. “Sie war so schwach, dass sie nach einer Spritze bewusstlos wurde”, so ihre Schwester Anna.

“Schön wie ein Engel lag sie da”, sagt Maria Speidel. Als Josefas Hauswirtin am 5. Juli 1943 nach Hause kommt, liegt Josefa auf dem Sofa in der Küche. Sie ist tot. Hat ihrem Leben mit Gas aus dem Herd ein Ende gesetzt. Einen Abschiedsbrief gibt es nicht, nur ein Gedicht in ihrem Tagebuch. Zur Beerdigung reisen die Verwandten aus Auschwitz an. Der katholische Pfarrer weigert sich, die Selbstmörderin kirchlich zu bestatten. Die Kosten für die Beerdigung übernahm Hugo Boss. Schlechtes Gewissen des Mannes, der später im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens mit einer der höchsten Strafen in Württemberg belegt wurde? Hugo Boss starb am 9. August 1948. Von schlechtem Gewissen ist bei der heutigen Geschäftsführung der Hugo Boss AG nichts zu spüren. Zu den Schilderungen von Anna Wocka wollte Pressesprecher Godo Krämer keine Stellung nehmen.

Henning Kober

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